Fazit

Start und Ziel meiner Reise (Prag und Paris) waren relativ willkürlich und gehen auf eine Erinnerung aus meiner Jugend zurück: Ein Hinweisschild auf einen Wanderweg, das ich mit 16 Jahren im Sauerland gesehen hatte und auf dem beide Städte mit Entfernungsangabe standen. Ich war damals schon fasziniert, dass man halb Europa zu Fuß durchqueren könnte. Viel entscheidender war, dass fast die gesamte Strecke durchs Mittelgebirge führt und auf langen Stücken durch Wald: Kaiserwald, Thüringer Wald, Rhön, Vogelsberg, Taunus, Hunsrück, Lothringen.

Jetzt habe ich die Strecke geschafft und bin immer noch angemessen beeindruckt, dass ich die 1.550 km wirklich zu Fuß zurückgelegt habe. Ich bin im Schnitt 25 km am Tag gelaufen und habe 57 Euro pro Tag ausgegeben für Essen und Schlafen, inkl. Hin- und Rückreise. Die Wanderung ist also nicht gerade billig gewesen, aber ich hatte mir ja auch nicht zum Ziel gesetzt, umsonst und draußen zu leben. Die große Entfernung und zwei Monate meist alleine unterwegs waren schon Herausforderung genug.

Im Rückblick kann ich sagen, die Wanderung hat mich auf jeden Fall verändert, wenn auch nicht grundlegend und so, dass ich es in wenigen Worten beschreiben könnte. Ich bin kein anderer geworden, aber ich habe neue Erfahrungen gemacht und neue Energie gesammelt.

Das ist eine meiner Erfahrungen auf dem Weg gewesen, du nimmst dir ein Ziel, einen Berg, einen Turm winzig klein am Horizont, scheinbar unerreichbar weit. Und dann laufe ich los, Stunde für Stunde, und schließlich komme ich nach vielen Kilometern genau dort an. Auch wenn es zwischendurch immer wieder Momente gab, wo ich am Sinn der Sache gezweifelt habe oder mir der ganze Aufwand viel zu anstrengend erschien oder der Weg sich unendlich in die Länge zog, bin ich letztlich immer da angekommen, wo ich hinwollte. Das bedeutet eine große Sicherheit und gibt mir ein Vertrauen, das ich so auch auf andere Ziele übertragen kann. Es gibt immer genug Gründe, zwischenzeitlich abzubrechen und sich zu sagen, dass das Ziel unerreichbar ist oder sich nicht lohnt oder zu aufwändig ist, letztlich muss ich mich nur Schritt für Schritt auf den Weg machen. Sicher, das ist eine Weisheit für den Kalender, aber nur, wenn man es nicht mal selbst ausprobiert hat. Dann wird es zur erlebten Gewissheit.

Die zweite Erfahrung der Reise war das Leben in der Natur und das Erlebnis, ein kleiner Teil davon zu sein. Für den Weg hatte ich mir ein paar touristische Highlights ausgesucht, zwei Burgen und Karlsbad in Tschechien und einige Städte in Frankreich. Das waren einige Anreize für zwischendurch, Zwischenziele als Belohnungen für die Mühen. Aber letztlich wurden diese Ziele immer unwichtiger und das eigentlich Entscheidende trat in den Vordergrund, das Wandern und das Leben in der Natur! Das Erleben (und Erleiden) der Natur. Ich bin oft den ganzen Tag gewandert und habe nicht einen einzigen Menschen getroffen. In der Nähe von Ortschaften gab es die Leute mit den Hunden (zumindest in Deutschland und Frankreich) und an den Wochenenden gab es Spaziergänger. Aber den größten Teil der Reise habe ich allein in der Natur verbracht. Das war nicht immer lustig, wenn es tagelang geregnet hat oder wenn plötzlich Schnee fiel und die Temperaturen nachts unter null Grad fielen. Manchmal habe ich auch den Weg verloren und war in dichtem Unterholz und hatte nur die Orientierung über GPS. Manchmal war die Landschaft extrem abwechslungsreich – und das bedeutete oft große Höhenunterschiede – manchmal auch eintönig mit langen Strecken durch weite Felder, mit tagelang dichtem Wald ohne Weitsicht oder immer am Kanal entlang. Diese Naturerfahrungen sind immer ganz unmittelbar und körperlich und prägen das gesamte Erleben des Tages.
Am extremsten und beispielhaft war die Erfahrung bei Frost im „Zelt“, als ich wegen der eisigen Kälte lange gebraucht habe, um überhaupt einzuschlafen. Und morgens als es hell wurde, habe ich erst realisiert, dass tatsächlich um mich herum alles gefroren war. Dann war nur der Gedanke an das Notwendigste, wie bekomme ich meine Sachen wieder trocken und wie wird mir wieder warm. Für den Gedanken an Frühstück war erst wieder Zeit gegen 9 Uhr, als ich schon 2 Stunden gewandert war und oben auf dem Berg in der Sonne saß. Da habe ich eine ganz tiefe Freude gespürt, lebendig zu sein und Kraft für den Tag und den weiteren Weg zu haben. Diese Lebendigkeit ist viel leichter in der Natur zu spüren als überall sonst. Dann entsteht ein unmittelbares Gefühl, Teil der Natur zu sein, schwach, vergänglich, verletzlich, aber mit einem unbändigen Lebenswillen und einer Kraft von innen heraus. Sogar mitten in Europa, mitten in der Kulturlandschaft die uns umgibt und selbst mit dem GPS in der Tasche.

Eine dritte Erfahrung war die Reduzierung meiner Bedürfnisse. Es gibt ein Buch mit dem passenden Titel „Laufen, Essen, Schlafen“ von einer Deutschen, die die großen nordamerikanischen Trails gelaufen ist. Und so ähnlich war es auch bei mir, ich war weitgehend auf Laufen, Essen und Schlafen reduziert – und wie ich mir das organisiere. Beim Essen musste ich mit dem zurechtkommen, was ich dabei hatte und was ich unterwegs an Angebot vorfand – und das war manchmal erstaunlich wenig. Manchmal bin ich stundenlang gewandert, ohne einen Imbiss, einen Laden oder eine Gaststätte zu sehen, die offen hatte. Dadurch hat sich mein Speiseplan deutlich reduziert. Das Frühstück war immer die wichtigste Mahlzeit und entsprechend üppig. Tagsüber habe ich wenig gegessen, ein warmes Essen hätte mich total müde gemacht, ideal waren für mich mittags Kuchen oder Eis, war aber selten. So blieb mir dann meist nur das, was ich dabeihatte – und das waren in der Regel Brot, Käse und Äpfel, oft mehrere Tage alt (ich kann ja nichts wegschmeißen) und entsprechend unattraktiv. Schlemmen war also nicht. Abends war ich dann meist in einem Restaurant oder habe etwas in der Pension gegessen. Aber dann war ich oft so müde vom Wandern, dass ich nicht allzuviel essen konnte. Mit Ausnahmen natürlich! Es war nicht gerade Fastenwandern, weil es mir an nichts gefehlt hat und ich mich nicht bewusst eingeschränkt habe, aber trotzdem habe ich schon nach der Hälfte der Zeit 6 kg abgenommen. Dabei ist es geblieben, aber ich habe jede Menge Fett in Muskeln umgebaut. Und das Erstaunlichste, ich bin minimal größer geworden! Vermutlich hat sich durch das aufrechte Gehen mit Stöcken die Rückenmuskulatur aufgebaut und dadurch die Wirbelsäule leicht gestreckt. Die Reduzierung meines Speiseplans ist mir also sehr gut bekommen und ich fühle mich nach der Wanderung deutlich aktiver und dynamischer. Und habe einen ungeheuren Bewegungsdrang und mehr Energie. Essen wird also deutlich überbewertet.

Und ich habe völlig neue, unerwartete und fast nur positive Erfahrungen mit Menschen gemacht. Einerseits war ich meist allein unterwegs und ausschließlich für mich selbst verantwortlich. Niemand der sich für mein Aussehen interessiert hätte oder Erwartungen an mich hatte. Ich konnte nach einer Wanderung im Regen und Schlamm ins größte Museum von Metz gehen, es hat niemand Anstoß genommen. Weil wirklich niemand dich kennt oder dich vermutlich auch nie wiedersehen wird, begegnete man dir eher mit Toleranz und Neugier als mit Kritik. Und das angesichts meiner manchmal etwas wilden Erscheinung.
Meine Kontakte zu anderen Menschen beschränkten sich oft auf die Unterkünfte, aber umso wichtiger waren die wenigen Begegnungen tagsüber: andere Wanderer, Leute auf der Straße, die ich nach Weg und Unterkunft gefragt habe, Zufallsbekanntschaften, die Angestellten im Tourismusbüro, die Männer am Stammtisch usw. Ich quatsche sowieso gerne die Leute an, aber auf dieser Wanderung war ich auf diese Kontakte angewiesen und bin im Laufe der Zeit immer offener und kontaktfreudiger geworden. Das ist mir so richtig erst im Nachhinein aufgefallen, weil ich es hier im Alltag beibehalten habe.

Und dieses erweiterte Bewusstsein, das ich von mir selbst bekommen habe, hat direkt zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt. Nicht im Sinne von Dominanz, sondern im Sinne eines besseren Selbstverständnisses und eines größeren Selbstvertrauens.